Von den hundertsiebenundvierzig Thesen, die Karl der Ketzer vor schlappen hundertsiebenundvierzig Jahren in die Sandsteinumfriedung der Drömelbeker Klosterquelle ritzte, sind seit den letzten Renovierungsarbeiten nur noch gerade mal zweiundsechzig erhalten; davon jedoch sind zwanzig in Rotwelsch und vierzehn in Rätoromanisch verfasst und da man versäumt hatte, den Autor nach einer Übersetzung zu fragen, bevor man ihn der Stadt verwies, verbleiben nur noch achtundzwanzig. Wen wundert es da, dass alle bis auf dreizehn der Sentenzen sich um Wollunterhosen drehen? Von den Verbliebenen sind wiederum acht völliger Nonsens, sodass mir die letztlich überschaubare, nichtsdestoweniger ehrenvolle, Aufgabe übertragen wurde, die restlichen fünf Sätze zu systematisieren. (Man erhoffte sich einen Hinweis auf den Ursprung von Karls unschmeichelhaftem Beinamen, der ihm ja schon zu Lebzeiten verliehen worden war.) Doch schon die Vorarbeiten erwiesen sich als schwierig, insbesondere die Suche nach einer geeigneten Unterkunft in der Nähe des Klosters: Von den zweiundsiebzig Hotels und Pensionen hatten gerade mal schlappe neununddreißig Fassbier im Angebot, die allermeisten jedoch nur süd- oder ostelbische Schlunke, sodass nur zwölf Lokale überhaupt diskutabel waren. Von diesen wiederum beschäftigten fünf entweder ausschließlich Tresenpersonal männlichen Geschlechts oder jenseits der Vierzig. Als ich die übrigen sieben auf WLAN, vegetarisches Essen und Flussblick abklopfte, wurde mir klar: So konnte das sicher kein Meilenstein der Editionsgeschichte werden. (Aber mal im Ernst: Von den als Meilenstein betitelten Editionen sind alle bis auf neun nicht der Rede wert und acht von diesen sind relativ schmucklose Lessing-Ausgaben. Bei der neunten handelt es sich um mein eigenes literarisches Schaffen, aber diese Ausgabe ist streng genommen noch gar nicht veröffentlicht, also nur ein Meilenstein in spe. Ende der Randnotiz.) - Was dann bei der Systematisierung rauskam, war am Ende gar nicht so spektakulär: So hatte sich Karl in den hier verhandelten Kurztexten bloß an einer Handvoll Themen abgearbeitet, in jedem aber gleich an mehreren und niemals in derselben Rehenfolge: Drei der fünf Sinnsprüche lassen sich ex post als Kommentar zur damals üblichen Schaufeldachscheunenbauweise, drei als Lamento über die unzureichenden Lüftungsgewohnheiten der Drömelbeker Mitbürger lesen; drei beinhalteten Kochtipps, vier waren als Abrechnung mit den Exfreundinnen des Ketzers zu verstehen (pikanterweise konnte man eine von ihnen innerhalb der Klostermauern verorten), vier als Loblied auf die Farbe Grün sowie weitere zwei als ironische Spitze gegen den knauserigen Bürgermeister, zwei stellten etwas Ähnliches wie Bauernregeln dar, jedoch nicht auf Ackerbau, sondern auf das damals im Werden befindliche Zwiebelschleifergewerbe bezogen. Keine der Thesen umfasste wenger als drei Zeilen oder siebzehn Silben, alle jedoch bis auf eine waren gekennzeichnet durch ein protomodernes Heringsverständnis und ließen die Neigung des Verfassers erkennen, am Mittwochmorgen lange auszuschlafen. Irgendwie menschlich, oder?

10/2019