Es war mal wieder verdammt spät geworden bei unserer wöchentlichen Fizzbinrunde und die Luft war zum Schneiden. Wir hatten uns auf eine entspannte Runde West-Ohio-Six-on-the-Fly geeinigt - das ist so ähnlich wie Kill-the-Goose in der Schwarzbier-Erweiterung, aber mit vier Karten in der Mitte und den Einäugigen als Advokaten. Zufälligerweise hatte ich zwei Siebenen und der Karo Bube auf dem Tisch (in dieser Variante Halbblut genannt) zählte als dritte Sieben, außer, er passte in eine Kleine Straße oder er würde von der Pik Dame neutralisiert werden. Das schien mir ziemlich unwahrscheinlich, also wettete ich ziemlich hoch, bis alle ausgestiegen waren außer dem alten Jörns. Wir hatten schon längst Haus und Hof gesetzt, das Auto und die komplette Barschaft, aber keiner wollte aufstecken, also kratzten wir die letzten Reserven zusammen. Ich legte meinen Siegelring auf den Tisch und ergänzte kichernd, er habe die Fähigkeit, den Träger vor Gott und den Menschen wohlgefällig zu machen. Als Antwort bot mein Gegenspieler die Hand seiner Tochter Florkina, aber das würde nur zum Sehen reichen, also musste er noch was drauflegen. Verlegen kramte er in seiner Ge­säßtasche und förderte schließlich mit einem frechen Grinsen einen alten Zahnstocher zu Tage. Der hat mal Kurt Schuhmacher gehört, kicherte er, der toppt deinen ollen Ring um das Doppelte. Nach unseren Hausregeln hätte ich den Einsatz ablehnen können, aber dafür hätte ich ihm eine Karte vom Tisch exklusiv überlassen müssen, was ja schon mini­male Rückschlüsse auf meine Handkarten erlaubt hätte, und wenn das jemand zu nutzen weiß, dann der bauernschlaue Jörns. Zum Glück fand ich in meiner Börse noch eine Pre­mierenkarte für ein Stück mit Maria Schrader und im Profil meiner Wanderstiefel einen Kiesel aus dem Nördlinger Ries, der höchstwahrscheinlich einmal Teil eines sehr großen Asteroiden gewesen ist. Mein Gegenüber nahm an und erhöhte mit einem recht unschar­fen Handyfoto, das eine Seite aus einem ein apokryphen Kapitel von Rousseaus Bekennt­nissen darstellen sollte; ich erwiderte mit dem Angebot, seine ungeliebte Ligusterhecke zu roden, und er, im Fall der Niederlage sich durch meine Beihilfeunterlagen zu kämpfen. Darauf konnte ich immerhin eine antike Daguerreotypie anbieten, die einen Schwarm fliegender Untertassen über Paris dokumentieren sollte. Knurrend schüttelte der Alte den Kopf und (Hausregeln!) schob mir die Kreuz Neun rüber. Die passte nicht in mein Blatt, aber ich konnte mir zumindest fast sicher sein, dass er mir das Halbblut nicht für eine Straße mopste. Aber ich musste nachlegen... Mein Sakrosanktum, die Reitbeteiligung bei der liebreizenden Mirinda F., konnte ich nicht riskieren und auch die Mikrofilme mit der Auf­schrift „Dallas 1963“ wollte ich erst nach einer ersten Sichtung auf Spiel setzen. Die Rei­hen der Supporter hinter unseren Stühlen hatten sich gelichtet. Da kam mir die rettende Idee: Kalle Nöttenmöller (Sie wissen schon: der Schlagerkönig von 98) hatte mal im Suff versprochen, mir seine nächste Platte zu widmen, und das Ganze kaum leserlich auf der Rückseite eines Tengelmann-Kassenzettels quittiert. Mit etwas Glück würde ich den Zettel noch an meiner Pinwand finden und dann umwidmen können, versicherte ich und Jörns nickte. - Aber nur zum Sehen. Und wenn du verlierst, verbringst du das nächste Osterfest auf meinem Spargelacker. - Ich akzeptierte und präsentierte siegessi­cher die beiden Siebenen. Geschockt zeigte Jörns die anderen beiden und wir riefen nach dem Codex, in dem das Stichkriterium festlegt ist. Stattdessen erschien aber Florkina Jörns und zwar mit Augenklappe als Pik Dame verkleidet, und servierte eine Runde Köstritzer für das ganze Hinterzimmer. Das lockerte die Stim­mung etwas auf, doch bevor wir einander zuprosten konnten, bahnten sich das Halbblut und Maria Schrader den Weg durch die Menge und rezitierten peinlichste Details aus Rousseaus Schlafzimmer. Lee Harvey Os­wald höchstpersönlich knallte mir den unausgefüllten Beihilfeantrag auf den Tisch und bereitete so dem seltsamen Spuk ein Ende. Das ganze Kartenhaus stürzte über uns zu­sammen. Eine tote Gans flog über die Kleine Straße Nr. 77.

07/20