Ich war ein Baukran. Als solcher musste ich das ganze Elend meines Daseins erleben: peitschender Regen, übelriechende Kranfahrer und Schwärme von Möwen, die einander den ganzen Tag irgendwelche Belanglosigkeiten zurufen und beim Verrichten ihres Morgengeschäfts weder mir noch sonst welchen Errungenschaften der Zivilisation ihren Repsekt zollen. Am schlimmsten war es aber, Nachts, wenn die Menschen die Hoheit über die Oberfläche aufgegeben hatten, zusehen zu müssen, wie sich die Gullydeckel öffneten und Scharen von Wabbelgnorzern auf den Straße marodierten, Vorgärten verunstalteten, Hauseingänge beschmutzen und so überhaupt gar keinen Respekt vor der menschlichen Kultur an den Tag legten; denn sie entstehen aus dem Unrat, von dem wir glauben, wir hätten ihn dem Vergessen anheimgespült, aber Nacht für Nacht quellen sie aus der Kanalisation wie Zahnpasta aus einer – ich war eine Zahnpastatube. Und zwar nicht irgendeine, sondern die Friedrichs des Großen, selbstverständlich nicht die Tube des echten Friedrich, sondern die von Rölfchen Nöttenmöller, der in einem psychotischen Schub sich für eine wiedergeborene Form des Preußenkönigs ausgab und den Trakt B der von einem ebenso durchgeknallten Psychiater regierten Spezialklinik am Stadtrand mit irgendwelchen strategischen Ordern tyrannisierte. (Im selben Trakt befanden sich übrigens auch der geheime Tunnel zum städtischen Kanalsystem, eine für den großen Tag bereitgehaltene Drohnenarmee sowie der Heizungskeller mit der Gnorzerette.) Natürlich sind aber Rölfchen und der irre Klinikdirektor nur Figuren aus Siebzehn Arten keine Kokosnuss zu essen und ein Pferd, dem neuen 100-per-Sense-Movie. Dieses nagelneue ganzheitliche Erlebnisformat (auf deutsch etwa „Großes Gefühlskino“ oder einfach „Fühlm“) feuert nicht nur audiovisuell, sondern auch sensorisch, olfaktorisch und so weiter auf unser Nevervensystem und erlaubt uns so eine vollständige Identifikation mit den – da war ich wieder ich. Das Sinnmodul auf meinem Schoß vibrierte und blinkte wie verrückt, wahrscheinlich weil die Probevorstellung zu Ende war. (Ich hatte Heinrieke und mich als Testzuschauer angemeldet.) Meine Begleiterin war begeistert: Wundervoll, wie es sich anfühlt, wenn die Protagonistin barfuß über die Sommerwiese läuft, schwärmte sie. Der Duft nach Heu und das Gefühl der Sonnenstrahlen im Gesicht... Ich war verwirrt. Hatte ich wirklich zweimal dieselbe Vorführung gebucht? Oder war ich doch aus Versehen auf den Special-Interest-Knopf gekommen? Ich stammelte konfuses Zeugs und ohne dass ich fragen konnte, ob wir noch was trinken gehen, war meine Verabredung schon in einem Taxi verschwunden. Das nächste Mal spendiere ich doch lieber eine richtige Kinokarte. Dann klappt‘s auch mit der Umsetzung des Drehbuchs.
01/2019