Als unsere Regierung, deren unendliche Weisheit ewiglich gepriesen sei, die Bürgerrechte modularisierte und auf die jeweiligen individuellen Bedürfnisse zuschnitt, setzte sie einen gesamtgesellschaftlichen Prozess in Gang, der seinesgleichen nicht gesehen hatte. Voller Freude widmeten wir Staatsbürger unsere Zeit der Umsetzung des Großen Plans, der nicht weniger als die millionenfache Generierung neuer Chancen und letztlich auch Verdienstmöglichkeiten versprach. Und so war auch ich erfüllt von grenzenlosem Optimismus, als ich mich nach dem Rathaus aufmachte, um eine Montageerlaubnis für Kleinbeetbewässerungssysteme zu beantragen. (Der alte Gartenschlauch war mir weggegammelt und beim Baumarkt gab es gerade welche im Angebot.) Die nötigen Qualifikationsnachweise hatte ich bereits in einer Aktenmappe gesammelt, die betreffenden Formulare online ausgefüllt, ich musste nur noch meine Identität zweifelsfrei nachweisen. Nur leider hatte sich vor dem entsprechenden Amtszimmer (wie auch vor den anderen Türen) eine Schlange von knapp hundert Leuten gebildet, ganz offensichtlich alles Typen, die die wirklich überall einsehbaren Regularien nicht zur Kenntnis genommen hatten, und das hält den Laden einfach auf. Auf derartige Widrigkeiten war ich glücklicherweise vorbereitet, denn ich hatte in meinem Rucksack ein Überlebenspack bestehend aus zwölf Käsestullen, zehn gekochten Eiern, zwei Packungen Hartkeksen sowie einer Dauerwurst eingepackt, dazu diverse Garnituren frischer Unterwäsche und einen Flachmann mit Steinhäger. Für Trinkwasser war zum Glück gesorgt, da die zwischen den Warteschlangen patrouillierende berittene Polizei sicherstellte, dass jeder Antragsteller zweimal täglich Toilette und/ oder Waschraum aufsuchen konnte, ohne seiner Warteposition verlustig zu gehen. Trotz der ordnenden Kraft der Uniformierten geschah es ständig (vor allem an Flurecken und in Treppenhäusern), dass sich die Warteschlangen überkreuzten und bisweilen vermischten. So befand ich mich in froher Erwartung, nacheinander für eine Erlaubnis zum Mischbrotverzehr, eine Lizenz zum Betrieb einer Pinguinzucht sowie für einen Konfitürenbezugschein Typ 2b (Stachelbeere) vorsprechen zu dürfen, bevor ich mich wieder in die alte Schlange eingliederte, wenn auch knapp 50 Warteplätze weiter hinten. Aber das störte nicht weiter, hatte ich doch Gelegenheit, mein Sanskrit wieder aufzufrischen, und nette Gesellschaft um mich herum. Ich wurde zu spontanen Geburtstagsparties eingeladen, gewann ein Vermögen beim Siebzehn und Vier, verlor es wieder bei Pferdewetten, und organisierte eine Tauschbörse für Bücher und Medien. Die junge Frau hinter mir gebar Zwillinge und ich versprach, mittels analoger Blockchain-Flüsterkette den mutmaßlichen Vater zu informieren (die Mutter glaubte, ihn vor einem Dienstzimmer in der Abteilung für Parkraumbewirtschaftung kennen gelernt zu haben). Ich dagegen verliebte mich in ein Mädchen aus der Nebenschlange. Wir wollten heiraten, aber das Standesamt war nur über einen Paternoster zu erreichen, dessen Benutzung eine spezielle Schulung voraussetzte, die aber auf zwei Jahre im Voraus ausgebucht war. Wir hatten uns gerade für übernächste Woche in der entsprechenden Warteschlange verabredet, da erwachte ich, den Kopf auf der Schreibtischplatte. Was für ein Alptraum! Vor mir lag ein halbes dutzend Aktenstapel, alles unbearbeitete Anträge, wahrscheinlich irgendwelche Baugeschichten. Ich könnte ja mal einen der Stapel sichten, dachte ich mir, aber es war schon halb vier und ich hatte mir zur – wie ich finde, löblichen – Gewohnheit gemacht, meinen Arbeitsplatz immer penibel aufgeräumt zu hinterlassen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.

10/2018