Die Zwiebelkönigin
Wären wir uns unter anderen Umständen über den Weg gelaufen, hätten die Ereignisse wohl eine andere Wendung genommen, aber über die Unvorhersehbarkeit des Lebens zu philosophieren war noch nie meine Stärke. Bleiben wir also bei den Fakten: Ich war gerade wegen meiner Neigung, den platschnassen Tafelschwamm durch den Klassenraum zu pfeffern, der Schule verwiesen worden. Der Direktor selbst hatte sich für meine Entamtung stark gemacht, aber ich durfte mich an Bord eines Segelschulschiffs mit Geschichte und Staatsbürgerkunde bewähren. Dieses sank irgendwo in den Rossbreiten und die Planke, an die ich mich klammerte, wurde auf eine winzige Südseeinsel gespült, wo auch gerade die Königin, die damit einer Palastrevolution zuvorkam, anlandete. Zunächst beäugten wir einander mit Skepsis, dann mit Neugier, dann brach gewissermaßen das Eis. Gemeinsam bauten wir erst an einem Regenunterstand, dann – wenn auch erfolglos – an einer Holzhütte, flochten uns Röckchen aus Seidelbast und übten uns im Mangokernweitspucken. Wir nährten uns von Früchten und Kleingetier und ersonnen am am Lagerfeuer Listen der 10 unverzichtbaren Dingsbumse (CDs, Bücher u.s.w) die wir unbedingt hätten mitnehmen müssen. Besonderen Spaß hatten wir dabei, uns vorzustellen, was wir mit den Bee Gees (oder dem, was davon übrig war) anstellen würden, wenn diese ebenfalls auf unserer Insel stranden würden. (Nur so viel: Kokosnüsse sowie eine ebenfalls nur in unserer Vorstellung existierende Packung Spülmaschinentabs spielten keine unwesentlich Rolle dabei…) Meine Nachbarin war kurz davor, mir ihren Vornamen zu verraten (bisher hatten wir einander mit dem jeweiligen Wochentag angesprochen, um zeitlich nicht völlig zu desorientieren), aber als das letzte Spülitab aufgebraucht war, ging unser Zusammenleben in eine kritische Phase über. Alte, überwunden geglaubte Verhaltensmuster brachen wieder durch: Die Zwiebelkönigin verlangte eine standesgemäße Anrede (reagierte aber unwirsch auf Durchlaucht), ich dagegen warf mangels Schwämmen mit griechischen Zitaten um mich. Das Klima war vergiftet und wir trennten uns. Den Unterstand nutzten wir aus pragmatischen Gründen weiterhin gemeinsam, aber den Rest der Insel teilten wir quadratfußgenau auf. Doch schon einige Tage vor der endgültigen Grenzziehung mittels Wassergraben nahte Rettung durch einen hinreichend nah vorbeischippernden Ausflugsdampfer, auf dem sich zahlungsfähige Touristen von Barry Gibb in den Schlaf singen ließen (playback, wie ich vermutete, aber egal). Die Zwiebelkönigin verdingte sich in der Buchhaltung und ich arbeitete meine Passage heimwärts in der Kombüse ab. Auch hier war das Spülmaschinenpulver alle und ich musste schrubben, schrubben, schrubben… Immerhin: Zu Hause erwatete mich ein Angebot meiner alten Schule, aber der neue Schulleiter war ausgerechnet der amtierende Selleriekaiser und ich verzichtete dankend. Τὸ δὶς ἐξαμαρτεῖν οὐκ ἀνδρὸς σοφοῦ…
01/2021
Bescheidene Bitte
Mein Hefeteig-Simulator war ein totaler Reinfall: Trotz erfolgreicher Testläufe und einer vielversprechenden Marketing-Strategie war der Launch als PR-Desaster geendet (20 nackte Piraten auf Rollschuhen hatten mit ihren Kaugummikanonen die Kinder verschreckt). Die Investoren sprangen ab und meine Gläubiger wetzten schon die Messer, da dachte ich mir, ich verdrücke mich besser ins Gerstengrütz-Kontinuum – benannt nach Dr. Anatolij Gerstengrütz, dem weißrussischen Mathematiker, der die Theorie morphografischer Räume um die Potenzierung quadrupolischer Tensorfelder mit algebraischen Para-Determinanten nebst einem Steinhagener Nullmengenbeweis erweitert hatte, bevor er endgültig in irgendeiner Klinik an irgendeinem Stadtrand verschwunden ist. Die Details dieser Theorie sind von geringem Belang; für unsereinen reicht die Modellvorstellung: Das Gerstengrütz-Kontinuum verhält sich zur vierdimensionalen Raumzeit wie eben diese zu einem rechteckigen Blatt Papier, das zu einem Einhorn gefaltet wurde (einem afrikanischen, also mit großen Ohren), welches wiederum mit Akupunkturnadeln an entsprechenden neuralgischen Punkten (Einhörner haben derer sechzehn!) malträtiert wurde; dieses Gebilde sei dann um die halbe dritte Querachse gegen den Uhrzeigersinn verzwirbelt worden, um anschließend das Ganze nach Entfernen der Nadeln wieder zu entzwirbeln, aufzufalten und unter Absingen schmutziger Lieder mit einem Gehwegrüttler zu glätten. Jeder Punkt auf dem Blatt hat nun nicht nur zu jedem Loch einen gewissen Abstand, sondern auch zu jedem assoziierten Durchstich, da jede Nadel mindestens drei Lagen Papier durchstochen hat. Wie sich ein jedem Ortsvektor zuzuordnendes n-Tupel aus Abstandsbeträgen konkret auswirkt, konnte ich noch nicht in Erfahrung bringen (einige Seiten des Reviews, auf das sich meine Erinnerungen stützen, wurden mehrfach gefaltet, dann durchstochen, verzwirbelt usf.), und wie man ins Kontinuum gelangt, behalte ich lieber für mich. Nur so viel: Misstrauen Sie jedem Ladebalken, vergessen Sie alles, was Sie über Metalepsen gehört haben, und streichen Sie das Wort Kaugummikanone aus Ihrem Vokabular. Falls Sie tatsächlich zu den Auserwählten gehören, die das Kontinuum erreichen sollten, und falls Sie dann eine Schachtel Filterlose mitbringen könnten, also das wäre ganz lieb! (Hin und wieder mopse ich mir welche durch einen assoziierten Durchstich, aber die reichen hinten und vorne nicht.)
05/2019
Wer, wenn nicht wir? Vielleicht keiner.
Amoenus Rickendahl, Ehrenkonsul, hatte ein Vermögern in Siffprökeln gemacht und so der Volksrepublik Yuftistan wirtschaftlich auf die Sprünge geholfen. Da er sämtliche fünfzehn Strophen der yuftischen Nationalhymne in der Landessprache vorzutragen vermochte (selbst nüchtern), wurde er nach dem Ableben des alten Staatspräsidenten per Akklamation ins höchste Staatsamt befördert. Nur beim Regieren zeigte er keine so glückliche Hand, denn der Reformstau, der die Republik in so ziemlich allen Bereichen des öffentlichen Lebens lähmte, war nicht durch optimistische Sprücheklopferei wegzuschieben. Der Yufte an sich ist und bleibt ein Dickschädel, Veränderungen werden grundsätzlich als etwas Negatives wahrgenommen – eine Erfahrung, die Rickendahls Amtsvorgänger samt und sonders geteilt hatten. Und auch er machte Bekanntschaft mit der sprichwörtlichen Undankbarkeit des Staatsvolks, welche er bisher nur für gehässige Behauptungen der Nachbarrepubliken (wenn man sie so nennen soll) gehalten hatte: Keine drei Wochen nach der Inauguration wurde ihm ein Auszug aus der Landesverfassung zugespielt, aus dem die Nachfolgemodalitäten für Regierungsposten hervorgingen: Weder Wahlen noch Rücktritt waren aufgeführt, ausschließlich das Ableben des Amtsinhabers war als Bedingung für eine Neubesetzung vorgesehen... Rickendahl musste schlucken und ließ mir einen Arbeitsplatz im Bleiernen Turm einrichten. Schon saß ich im nächsten Flieger nach der Yuftischen Hauptstadt. Meine – unsere – erste Maßnahme bestand darin, dem Volk wieder etwas mehr Orientierung zu verschaffen und die Anzahl der Wegweiser zur nächsten öffentlichen Toilette zu verdoppeln. Mein Praktikum als Museumspädagoge sollte sich hier bezahlt machen, so hoffte ich, doch die Beliebtheitswerte stiegen kaum. Mein nächster Vorschlag sollte das Verkehrschaos eindämmen, indem alle Ampeln um eine vierte Farbe, extra für liegen gebliebene Fahrzeuge, erweitert wurden – der Ruck durch die yuftische Gesellschaft blieb aus. Auch der Versuch, mit einer Strafrechtsreform die Wirtschaft weiter anzukurbeln und für Kannibalismus an Minderjährigen Sozialdienst in der großen Prökelmühle ableisten zu lassen, machte uns keine Freunde. Als zwei technische Sekretäre in kaum verwendbarer Form vor der Bürotür abgelegt worden waren und die Palastwache innerhalb des Gebäudes postiert wurde, begann mein Freund einzusehen, dass seine Regierungszeit sich dem Ende neigte. Auf dem Vorplatz wurde eine große Doppelfriteuse montiert, das Volk sammelte sich und wir überhäuften einander mit Vorwürfen. Hätten wir vielleicht einfach schon im Vorfeld das Stellenprofil für einen Troubleshooter etwas schärfen sollen? Wer weiß?
04/2019
Bin kurz weg
Um zu verhindern, dass die altehrwürdige Bruderschaft des Dingsda endgültig in die Bedeutungslosigkeit absackte, bedurfte es beherzter, unkonventioneller Methoden: Ein sinnvoller erster Schritt wäre es, Commander Prambs Wokwürfelimperium endgültig zu zerschlagen oder auch sämtliche Steppjacken der nördlichen Hemisphäre nötigenfalls mitsamt der Trägerin im nächsten aktiven Vulkan zu versenken; beide Vorschläge wurden jedoch als wenig realistisch abgetan. Praktikabler erschien es da, die letzten großen Anagramme zu HUNDERT NACKTE WEIBER AUF DEM MÄNNERPISSOIR ausfindig zu machen und damit wenigstens Googles KI beim alljährlichen Turing-Contest in die Schranken zu verweisen. Und hier komme ich ins Spiel, wenn auch nur als Verlegenheitslösung. Denn die unangefochtene Meisterin in der Buchstabenpermutation, Dr. Chitoko Flens, war zuletzt in einem Helikopter Kurs Ätna gesichtet worden, und so musste man mit mir vorlieb nehmen, selbst wenn ich der Buderschaft bestenfalls locker verbunden war und außerdem gerade unter einer heftigen Schreibblockade litt. Die Majonaise hatte sich getrennt und Heike gleich mit; und Peer war schon an ihr dran, munkelte man. Eifersucht und die Trauer um die wohlgeformten Zehenzwischenräume meiner Verflossenen hatten sich in Bergen ungespülten Geschirrs und gigantischen Haufen von Schmutzwäsche manifestiert und der Legat der Bruderschaft konnte meinen Klingelknopf nur über zwei Paletten Altglas mit einem Teleskopstock erreichen. Dann jedoch musste er hartnäckig bleiben, was zu etwa gleichen Teilen meiner lethargischen Grundhaltung und der Vormittagsdoku über Familie Schmitz geschuldet war, deren Dänischer Dogge im Spanienurlab von einem serbischen Apotheker auf einem japanischen Motorrad der rechte Hinterlauf verletzt worden war, und die nun mit einem Bayrisch sprechenden Anwalt um Satisfaktion verhandeln mussten. Das immerhin wirkte zwar recht inszeniert, aber irgendwie kathartisch und so bequemte ich mich nach dem zweitausendsiebenhundertdreiunddreißigsten Schellen (ich muss mitzählen – immer!), die Tür zu öffnen. Mit dem Abgesandten leerte ich dann die verbliebene halbe Kiste Chablis, rief den Oberen Bundesbruder an und lallte etwas wie PRAMBS WOKSAUEREI FRUCHTET IN DEINEN DÄRMEN in die Muschel. – Das war der Durchbruch! Keine zwei Monate später war der Commander abgewickelt, das Steppjackenproblem hatte sich von selbst erledigt (leider zugunsten kaum kleidsamerer Wachsjacken) und die dankbaren Bundesbrüder hatten meine Wohnung aufgeklart und meinen Nebenbuhler ohne Smartphone in der Ibbenbürener Innenstadt ausgesetzt. Ich mache mich derweil als gemachter Mann und Selfmade-Ehrenbruder auf die Suche nach Heike, auch wenn ich dafür in den Schlund dieses Isländischen Vulkans mit dem unaussprechlichen Namen hinunterklettern muss. Ich schätze, ich bin in einem halben Jahr wieder da. Bis da-hann!
03/2019
Sex aus Neunundvierzig
Meine Katasymbiontin Bellatrix rollt meistens nur mit den Augen, wenn ich freudestrahlend vom Trödler wiederkehre – ein Signal hauptsächlich der Resignation, vielleicht aber auch ein bisschen ironisiert, hoffe ich. Um so überraschter war ich vorgestern, als ich mit nur zwei Neuerwerbungen nach Hause kam, sie jedoch völlig geschockt, also kreidebleich und der Muttersprache beraubt, nach dem Obstler griff. (Ich war gern behilflich.) Zugegeben, wer braucht schon ein mechanisches Klavier, zumal eines, das nicht etwa automatisch Musik macht, sondern herumfährt und Getränke serviert? Es hatte einem Dotcom-Fritzen mit einem riesigen Wohnzimmer gehört, in dem er regelmäßig große Gesellschaften empfing, und die Gäste konnten dann etwas klimpern, während der Drink gemixt wurde. Unsere Stube war zugegebenermaßen nicht ganz so geräumig und stand auch schon ziemlich voll (wir empfangen zumeist zu Gartenpartys), also mussten wir erst einmal ein wenig rangieren, bevor das gute Stück neben Dampfradio und Couchgarnitur Platz fand. Mein zweites Item war ein schlichtes kleines Holzbrett mit genau 49 Bohrungen, in denen winzige Glasphiolen steckten, Parfumpröbchen nicht unähnlich. An jedem der Löcher war ein kleiner Name eingraviert, und der Verkäufer hatte mir im Flüsterton offenbart, die Ampullen beinhalteten die ganze Essenz der jeweiligen Person, freilich ohne Hinweis darauf, wie diese extrahiert worden wäre. Schade war auch, dass die interessantesten Extrakte (von Alfred Jarry etwa oder Charles Dexter Ward) bereits fehlten, wohingegen Langweiler wie Karl der Vierte oder Maria Furtwängler noch der Entnahme harrten. Also testete ich vorsichtig einzelne Tröpfchen. Ich ließ Einsteins Geruch auf mich wirken, schleckte an der Furtwängler, träufelte mir Lady Gaga in die Augen und schrieb mir mit Konrad Adenauer „Keine Experimente!“ hinter die Ohren. Nichts passierte. Enttäuscht entleerte ich alle Phiolen in den Wassertank meiner Entropie-Kaffeemaschine, stopfte das Sieb mit der dunkelsten verfügbaren Bohne und gab 170 Atü. Trixi blieb beim Obstbrand und übte überdies seit einer halben Stunde den Flohwalzer, also gönnte ich mir den ganzen Sud, zerschmetterte die Tasse an der Wand (das machen wir immer so) und lehnte mich in Erwartung der ultimativen Erkenntnis auf dem Sofa zurück – also zwischen Bellatrix und einem ausgestopften Eselfohlen, das vor etwa zwei Monaten bei uns Asyl gefunden hat. Die Wirkung des Gebräus war tatsächlich ungewöhnlich: Zuerst kam nur ein Schluckauf, dann juckte mein rechtes Knie und ich wurde von ein akustischem Flashback mit den schönsten Sentenzen aus dem Munde von Oberinspektor Derrik heimgesucht. (Der übrigens fehlte in der Matrix der Neunundvierzig!) Schließlich aber kroch die ungefilterte Wahrheit über Alles und Jeden durch meine Hirnwindungen und schraubte sich in mein Bewusstsein. Es erschloss sich mir das komplette Weltprinzip, das bestimmt irgendwann einmal als vierter Hauptsatz der Thermodynamik Einzug in die Lehrbücher finden wird. Mit Rücksicht auf alle Beteiligten behalte ich die Einzelheiten jedoch vorerst lieber für mich.
02/2019
Eine unerwartete Nachricht
Ich lag gerade unter einem Olivenbäumchen und freute mich der Mittagssonne, da landete Hubi, die Postgans, neben mir und zog die seit zwei Tagen überfällige Karte meines Ferngopartners aus der Ledertasche. Heho, Bruder Gans, was gibt's Neues in der Welt, begehrte ich zu wissen, berichte mir und wir nehmen heute Abend beim Kleewirt einen Humpen zusammen. Hubi antwortete: Wacker gesprochen, Gevatter! Die Erbsenpreise fallen wieder, sagen die Gelehrten, und der Herbst zieht schon mächtig übers Land. Außerdem hat König Furunkel seine älteste Tochter endlich verheiraten können und gibt ein Festbankett für den Landadel und die Innungsoberen aus der Hauptstadt. Uns mag das nicht betreffen, aber - nun senkte sich der Gänseschnabel verschwörerisch zu mir hernieder - man spricht von einer allgemeinen Begnadigung. Bis auf Diddl und Jorette sollen alle großen und kleinen Schurken aus den Kerkern gekehrt werden und das heißt... - ... selbst der Schweraussprechliche wird wieder sein Unwesen treiben, vervollständigte ich und verfiel in tiefes Grübeln, während mein Freund zum Abschied die Postmütze lupfte und sich dann in den weiten Himmel erhob. Der Schweraussprechliche... murmelte ich. Wir hätten ihn damals am nächsten Windmühlenflügel aufknüpfen sollen... Andererseits: Mit wem hätte ich Ferngo spielen sollen? Und seitdem außerdem der Wind kaum mehr weht, wurden fast alle Mühlen abgebaut und durch Hundestudios und Kosmetiksalons ersetzt. Selbst vor unserem kleinen Land macht die stetige Veränderung nicht halt. Nachdenklich machte ich mich auf den Weg nach dem Kleewirt. Anderswo gab es schon elektrische Galgen.
10/2019